Bildnerische Ausdrucksformen im Übergang zum Jugend- und Erwachsenenalter

Immer wieder wird in der kunstpädagogischen Literatur beklagt, dass die Ausdrucksfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler mit der Schemaphase am Ende der Grundschulzeit konventioneller werden und dass der Gestaltungswille abnimmt. Mögliche Begründungen hierfür reichen von festzustellender zeichnerischer Unfähigkeit bis hin zur Skepsis der Jugendlichen gegenüber ihrer eigenen Darstellungsfähigkeit, die die Wirklichkeitsnähe zum Maßstab nimmt. Der amerikanische Psychologe Howard Gardner spricht Kindern in diesem Alter vor dem Hintergrund ihrer bildnerischen Ausdrucksfähigkeiten sogar das Imaginationsvermögen ab. Dieses durchgängig skizzierte Phänomen des Nachlassens bildnerischer Aktivitäten lässt sich möglicherweise nicht nur eindimensional auf die Ursache defizitärer wirklichkeitsanaloger Darstellungsfähigkeiten zurückführen. Es wäre beispielsweise denkbar, dass die vermeintliche Präferenz für realistische Darstellung nicht genuin gewollt ist, sondern Folge vermittelter Orientierungsmodelle (vgl. u. a. Richter 1987, S. 71 ff.). Es könnte ebenfalls sein, dass sich das Interesse der Kinder und Jugendlichen einfach nur auf andere Ausdrucksbereiche verlagert (z.B. Kleidung) oder dass die Schülerinnen und Schüler ihrem Mitteilungs- und Kommunikationsbedürfnis nun bevorzugt sprachlich nachkommen. Dies sind zentrale kunstpädagogische Forschungsfragen.

Darüber hinaus muss gefragt werden, ob die bildnerische Gestaltungsfähigkeit nicht genügend Anreize erhält, ob Unzufriedenheit über die bildnerischen Ergebnisse den Ausdruckswillen blockiert oder ob das gestalterische Potential tatsächlich entwicklungsbedingt zurückgeht - als Folge des so genannten "epigenetischen Strukturwandels" wie von Günther Mühle (1955/1971, S. 20) behauptet. Während Mühle Mitte der 50er Jahre noch die Möglichkeit negiert, dass dem proklamierten Strukturwandel durch eine kontinuierliche unterrichtliche Förderung der Gestaltungstätigkeit entgegengewirkt werden könne (ebd.), gehen wir davon aus, dass bei geeigneter Förderung das ästhetische Potential der Zehn- bis Zwölfjährigen durchaus erhalten bleibt. Nur dass im Übergang zum Jugendalter die bildnerischen Inhalte vielfältiger werden: Computerspiele, Bücher, Filme, Comics, politische Ereignisse u. Ä. werden gestalterisch bearbeitet und finden ihren Niederschlag in ästhetischen Äußerungen. Zugleich zeichnet sich die Bildsprache zum Teil durch die Übernahme von konventionellen Bildklischees z.B. aus Comics, von Plattencovern u. a. aus, zum Teil werden Collagetechniken, abstrakte Formen, Schriftzeichen, Piktogramme, Fotografien etc. angewendet, um sich adäquat auszudrücken.

Praxiserfahrungen im 4. bis 6. Schuljahr lassen die Annahme zu, dass der Computer als Gestaltungsmittel die Schülerinnen und Schüler motiviert, sich weiterhin zeichnerisch und malerisch auszudrücken. Anhand theoretischer sowie qualitativ empirischer Untersuchungen ist zu erforschen, ob der Computer ein geeignetes Medium ist, die ästhetischen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen (Kreativität, Imaginationsvermögen, Medienkompetenz, bildnerischer Ausdruck usw.) in einer Phase auszubilden und weiterzuentwickeln, in der häufig kein Interesse am gestalterischen Tun gezeigt wird.

John-Winde, Helga/ Roth-Bojadzhiev, Gertrud: Kinder, Jugendliche, Erwachsene zeichnen. Untersuchung zur Veränderung von der Kinder- zur Erwachsenenzeichnung. Hohengehren 1993

Mühle, Günther: Entwicklungspsychologie des zeichnerischen Gestaltens. Grundlagen, Formen und Wege in der Kinderzeichnung. (1. Aufl. 1955). Frankfurt am Main 1971

Richter, Hans-Günther: Die Kinderzeichnung. Entwicklung, Interpretation, Ästhetik. Düsseldorf 1987

 

Publikationen

  • Kirchner, Constanze: Collage als bildnerisches Konzept im Jugendalter. Zur Raumdarstellung in der Jugendzeichnung. In: Lutz-Sterzenbach, Barbara/ Peters, Maria/ Schulz, Frank (Hg.): Bild und Bildung. Praxis, Reflexion, Wissen im Kontext von Kunst und Medien. München 2014, S. 293-310
  • Kirchner, Constanze/ Miller, Monika: Neue Forschungsperspektiven auf die Entwicklung und Förderung der Bildsprache. In: Schulz, Frank/ Seumel, Ines (Hg.): U20 Kindheit Jugend Bildsprache. München 2013, S. 332-344
  • Kirchner, Constanze/ Kirschenmann, Johannes/ Miller, Monika: Forschungsstand und Forschungsperspektiven zur Kinder- und Jugendzeichnung. In: Kirchner, Constanze/ Kirschenmann, Johannes/ Miller, Monika (Hg.): Kinderzeichnung und jugendkultureller Ausdruck. Forschungsstand – Forschungsperspektiven. München 2010, S. 9-14
  • Kirchner, Constanze: Digitale Kinderzeichnung im Übergang zum Jugendalter. Eine Studie zur digitalen Bildgestaltung von Zwölf- bis Vierzehnjährigen. In: Peez, Georg (Hg.): Handbuch Fallforschung in der Ästhetischen Bildung/ Kunstpädagogik. Qualitative Empirie für Studium, Praktikum, Referendariat und Unterricht. Baltmannsweiler 2007, S. 90-101
  • Kirchner, Constanze: Kinderzeichnung im Wandel. In: Kirschenmann, Johannes/ Schulz, Frank/ Sowa, Hubert: Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung. München 2006, S. 82-97
  • Kirchner, Constanze: Kinder- und Jugendzeichnung. In: Kirchner, Constanze (Hg.) Kinder- und Jugendzeichnung. Kunst+Unterricht Sammelband. Seelze/Velber 2003