Gastaufenthalt an der Fine Arts School Shandong University

Jinan 2015.09.13 bis 2015.11.14

Vom 2015.09.13 bis 2015.11.14 lebte ich in Jinan, Volksrepublik China. Ich schreibe bewusst „lebte“, denn während dieser langen Zeit war es nicht touristische Oberfläche oder geschäftsmäßige Distanz, sondern immer vertrauter werdende Nähe, mit der ich dort allem begegnen durfte: den Menschen und ihrem Alltag; Kunst und Kultur; der Dynamik einer Stadt, die meine bisherigen Vorstellungen von Großstadt in jeder Hinsicht übertraf; der Lebendigkeit einer Nation, die aus einer wahrhaft langen Geschichte immer wieder Neues, Überraschendes zu schöpfen weiß.

Nachdem Dr. Yao Ronghua das Jahr zuvor am Lehrstuhl für Kunstpädagogik an der Universität Augsburg einen zweimonatigen Lehrauftrag hatte, lud mich die School of Fine Arts für 2015 dazu ein, an ihrem Institut ebenfalls für 2 Monate Zeichnen und Ölmalerei zu unterrichten. Frau Prof. Dr. Kirchner, Inhaberin des Augsburger Lehrstuhls, freute sich sehr, dass unser guter und freundschaftlicher Kontakt, der inzwischen seit mehr als 5 Jahren besteht, nun auf solcher Ebene weitergeht. Wie könnte man die jeweils andere Kultur besser kennen- und verstehen lernen, wenn nicht auf der Ebene eines praktischen akademischen Austausches!

Zunächst, so muss ich gestehen, hatte ich etwas Angst vor der Fremde und dem ganz Anderen, das für viele von uns Europäern das sagenumwobene China darstellt. Außerdem fürchtete ich, verloren zu sein unter so vielen fremden Menschen. Aber schon als ich am Flughafen in Beijing von Herrn Dr. Yao Ronghua und Prof. Xing äußerst herzlich empfangen wurde, spürte ich, dass ich nicht in der Fremde, sondern bei sehr guten Freunden angekommen war. Und in den folgenden Wochen erlebte ich eine derart tief gehende und allumfassende Gastfreundschaft seitens der Shandong University, im Besonderen der School of Fine Arts, der Dozenten und Studierenden, aber auch der Leute, denen ich im Alltag, beim Essen oder im Zug begegnete, dass meine Zeit in Jinan eine ungeheuer reiche, schöne, freundschaftliche Zeit war, die ich für immer in bester Erinnerung behalten werde.

Vor allem Herr Dr. Yao Ronghua, Dozent für Malerei an der School of Fine Arts, half mir unermüdlich vom Anfang bis zum Ende meines Aufenthaltes, in Jinan heimisch zu werden. Mit viel Geduld und Engagement sorgte er dafür, dass ich die Stadt, die nähere Umgebung mit dem Tai Shan und alten, traditionellen Dörfern, die Vielfalt der chinesischen Küche, aber auch traditionelle chinesische Kampfkunst, Meditation und Musik kennenlernen durfte. Frau Fang Jing, Frau Wen Jing und ihr Mann Prof. Dr. Chang zeigten mir viele Details der alten chinesischen Kultur und brachten mich auch in Kontakt mit einer ganz traditionellen, sehr effektiven Form des Wing Chun Kung Fu, die mich außerordentlich beeindruckte.

Herr Prof. Li Ping, Leiter der School of Fine Arts, lud mich dazu ein, eine Exkursion von Studierenden zu begleiten, die mich über 4000 Kilometer weit durch den Nordwesten Chinas führte. Ich bin überaus glücklich, dass ich während meines Aufenthaltes in China die Möglichkeit erhielt, so viel zu sehen und zu erleben, und sogar die alte Seidenstraße entlang reisen durfte. So konnte ich die wundervollen Grotten bei Dunhuang mit ihren höchst geheimnisvollen und interessanten Wandmalereien sehen. Ich bewunderte die endlose Weite der Tǎkèlāmǎgān Shāmò mit ihren sanft geschwungenen Dünen und dem klaren Blau des Himmels. Ich genoss die mächtigen Berghänge der tibetischen Hochebene, das Graphitgrau des Qinghai-Sees oder die faszinierenden Figuren der riesigen Terrakotta-Armee bei Xi‘An. Dazu kam noch die unerschöpfliche Geduld der Studierenden, die mir bei den chinesischen Führungen mit zusammenfassenden Übersetzungen einen tieferen Einblick in die buddhistischen Tempel und Denkmäler gewährten oder am Abend dafür sorgten, dass ich etwas Gutes zu essen bekam. Vor allem Herrn Liu, der an der School of Fine Arts traditionelle chinesische Malerei studiert, war stets für mich da und organisierte immer alles, was ich auf der Reise brauchte.

Diese Eindrücke wie auch die bereits erwähnte äußerst warmherzige Gastfreundschaft bildeten eine wundervolle Umgebung für das, weswegen ich eigentlich nach Jinan gekommen war: 5 Wochen lang an jeweils 4 Vormittagen sollte ich eine Klasse von 12 Studierenden der School of Fine Arts in Zeichnen und Ölmalerei unterrichten.

Die mir anvertrauten Studierenden waren bereits sehr fortgeschritten, so dass ich mich ganz auf spezielle Prinzipien konzentrieren konnte – Prinzipien, die in der aktuellen Malerei Westeuropas eine wichtige Rolle spielen. In zwei Vorträgen erörterte ich zudem wesentliche Aspekte der westeuropäischen Farbkomposition und zentrale bildnerische Mittel, die derzeit von arrivierten wie auch aufstrebenden Malern verwendet werden, um zu bestimmten Bildaussagen zu kommen. Ich hatte zwar seit ein paar Monaten ein wenig Chinesisch gelernt, war aber natürlich nicht in der Lage, meine Vorträge und Unterrichte ganz auf Chinesisch zu halten. Glücklicherweise fand ich Hilfe in zwei Studierenden aus Jinan, die ein paar Monate zuvor in Deutschland an der Universität Augsburg studiert hatten. So dolmetschte Frau Lu Xiaoting während meiner Vorträge und half mir auch gelegentlich in meinen Unterrichten. Frau Ran Siyu übersetzte meine Einführungen in die Figuren- und Geschichtsmalerei im Klassenzimmer. Beiden Übersetzerinnen gebührt wirklich höchster Respekt, da sie sich innerhalb kürzester Zeit mit einer äußerst komplexen Fachsprache vertraut gemacht hatten! Über Bilder zu sprechen gehört auch für uns in Deutschland zu den schwierigsten Dingen, da sich viele Aspekte der Malerei einfachen Worten entziehen.

In der mir zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit stellte ich sowohl theoretisch als auch praktisch die wichtigsten Genres der Westeuropäischen Malerei vor. Dabei hielt ich mich an die Reihenfolge „Stilleben“, „Landschaftsmalerei“, „Figur/Akt/Porträt“ und „Historienmalerei“. Diese Reihenfolge stellt gleichzeitig die Hierarchie dar, wie in der klassischen Westeuropäischen Malerei einst Kunst unterrichtet worden ist. Stilleben-Malerei bildete die Basis, da es hier nur um das Kopieren der Natur geht, was eben einst als bloßes Abmalen toter Gegenstände angesehen und dementsprechend gering eingeschätzt wurde. In der Landschaftsmalerei entwickelten sich seinerzeit alle wesentlichen malerischen Mittel, da die Künstler in diesem Genre sehr frei mit Strukturen, Pinselhandschrift und Farbwirkungen experimentieren konnten. Figuren-, Akt- und Porträtmalerei hingegen wurden als Medium der Verherrlichung des Menschen und seiner psychischen Tiefe verstanden und galten als wesentlich vornehmer. Am höchsten geschätzt wurde jedoch die Historienmalerei: der Künstler musste hier seinen Erfindungsreichtum, mithin seine Genialität zeigen und gleichzeitig sämtliche anderen Genres perfekt beherrschen.

Die einzelnen Genres zeigte ich jeweils in ihrer klassischen Ausprägung wie auch in ihren aktuellen Formen anhand zahlreicher Bildbeispiele. Die Studierenden sollten erfahren, wie stark sich die westeuropäische Malerei seit dem 19. Jahrhundert – also seit Entdeckung der Fotografie und der Konzentration auf ihre eigenen malerischen Mittel – verändert hat bzw. wie sie heute im Zeitalter moderner und allumfassender Medientechnologie das digitale Zeitalter im Gemälde kommentiert. In eigenen Malereien sollten die Studierenden darüber hinaus Erfahrungen sammeln, wie sich Bildinhalte und bildnerische Mittel gegenseitig beeinflussen, oftmals jedoch auch behindern. Genau dieser Zwiespalt wird nämlich immer mehr zum eigentlichen Thema jenseits der klassisch gewordenen Motive eines Kanons, den die Fotografie inzwischen abgelöst hat.

Die Studierenden der School of Fine Arts waren stets neugierig und bereit, das Neue, das sie von mir erfuhren, sogleich selbstständig anzuwenden, auszuprobieren, damit zu experimentieren. Da ich oftmals versuchte, im Unterricht meine Chinesisch-Kenntnisse anzubringen, danke ich ihnen für ihre immense Geduld, da es hin und wieder etwas dauerte, bis ich das richtige Wort gefunden hatte!

Immer noch bin ich ganz benommen von all den wundervollen Eindrücken, die ich während meiner Zeit in Jinan sammeln konnte. Ich hoffe, dass es meinen Freunden und Kollegen und den Studierenden dort gut geht! Ich denke an sie und grüße sie herzlichst aus der Ferne! Und ich wünsche mir natürlich, sie bald wiedersehen zu dürfen – vielleicht schon nächstes Jahr, wenn unser Austausch in die nächste Runde geht! Jedenfalls freuen wir uns hier sehr auf einen weiteren Dozenten oder eine Dozentin der School of Fine Arts sowie auf deren Studierende, denen wir dann an unserem Institut unsere Ateliers und Werkstätten zur Verfügung stellen könnten. Wir sehen in diesem Austausch und der Freundschaft mit der School of Fine Arts eine große Bereicherung und sind sehr glücklich, dass gerade im Bereich der Kunst auf solch kreative Weise zwei so unterschiedliche Kulturen begegnen können.

 

Urs Freund, Dozent für Malerei, Neue Medien und Ästhetiktheorie am Lehrstuhl für Kunstpädagogik, Universität Augsburg, Herbst 2015