Unsichtbare Kunst und ihre didaktischen Perspektive

Dr. Stefan Mayer (2011)

Es gibt künstlerische Ausdrucksformen, bei denen der Einstieg in eine Auseinandersetzung nicht über wahrnehmbare Materialien und Formeigenschaften funktioniert, weil die Werke nicht sichtbar sind und sich demzufolge einer sinnlich-visuellen Wahrnehmung entziehen. Gleichwohl bieten gerade sie die Möglichkeit, den Betrachter durch ihre Präsenz so nachhaltig zu irritieren, dass er im Prozess einer gesteigerten Konzentration zu gänzlich neuen Erkenntnissen gelangt, die einen überraschenden Bezug zu seiner Lebenswelt ermöglichen.

Die historische Entwicklung unsichtbarer Kunstwerke verläuft nicht linear. Frühe Beispiele finden sich zunächst in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Im 20. Jahrhundert findet das Thema Eingang in die bildende Kunst und erlebt in den 1960er und 1970er Jahren seinen bisherigen Höhepunkt. Im Gegensatz zu anderen Tendenzen der Nachkriegskunst wurden solche unsichtbaren Werke trotz ihrer kunsthistorisch unumstrittenen Bedeutung von der Kunstdidaktik bislang nahezu vollständig ignoriert.

Das Erleben von Kunstwerken ist das zentrale Anliegendes Kunstunterrichts und basiert größtenteils auf optisch-visuell vermittelten Inhalten. Zwar spielen bisweilen auch haptische oder akustische Aspekte in der Kunstvermittlung und der bildnerischen Praxis in der Schule eine gewisse Rolle, dennoch aber steht die sinnlich-optische Wahrnehmung traditionell am Anfang aller kunstpädagogischen Bemühungen. Dies gilt auch für die aktuelle Didaktikdiskussion. Im Zentrum steht weiterhin alles, was sich „primär visuell, über den Sehsinn vermittelt“ (Grünwald 2009). Darauf deuten auch einschlägige Formulierungen wie „Sehen Lernen“,„Gebrauch der Sinne“ oder „visuelle Kompetenz“. Dabei gibt es genügend Gründe, die für eine Beschäftigung mit unsichtbaren Phänomenen sprechen: Unsichtbare Werke spiegeln vielfältige Phänomene unserer Lebenswirklichkeit – beispielsweise die nicht sichtbaren Wirkungen radioaktiver Strahlung –, werfen wichtige Fragen auf und ermöglichen eine Auseinandersetzung mit den Grenzen der visuellen Wahrnehmung. Daraus lassen sich folgende Fragestellungen ableiten: Wie kann man als Kunstpädagoge Kunstwerke handhaben, die nicht direkt sinnlich erfahrbar, die nicht sichtbar sind? Wie können Schüler damit umgehen, und welchen Sinn könnte das für sie haben?

Unsichtbare Kunstwerke lassen sich nicht über visuelle Rezeptionsstrategien erschließen. Sie bilden eine Lücke im Fluss der Alltags- und Kunstwahrnehmung und werden dem Betrachter auf eine ihnen ganz spezifische Weise nahe gebracht. Die traditionelle Auffassung, der Umgang mit Kunst im Unterricht müsse vornehmlich auf visuellen Wegen stattfinden und eine Verfeinerung der optischen Wahrnehmung zum Ziel haben, wird mit der Dissertationsschrift widerlegt. Damit wird zugleich eine weiterreichende Perspektive eines zeitgemäßen Verständnisses des Faches Kunst eröffnet, die den spezifischen Wirkungen unsichtbarer Werke im Unterrichtskontext folgt und diese in Zusammenhang mit Bildungsplänen und Lernzielen bringt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass durch unsichtbaren Kunst wesentliche fachspezifische Kompetenzgewinne sowie ein signifikanter Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung der Schüler und Schülerinnen erzielt werden können.