Gebrauch der Farbe in der Kinderzeichnung

Dr. Marie-Luise Dietl

Während zahlreiche Untersuchungen zur zeichnerischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen existieren, ist das Phänomen des Farbgebrauchs in der kunstpädagogischen Theorie seit Beginn der Fachgeschichte nur marginal erforscht worden. Zwei Aspekte können hierfür ursächlich genannt werden: Erstens erschwert die Komplexität der Farbwirkungen eine Beschreibung. Farbgebung folgt keinen starren Regeln, es gibt keine festgelegten Entitäten, mit denen sich aussagekräftig operieren lässt, da die Farbwirkungen von unzählig vielen Variablen abhängig sind. In Folge dessen lassen sich keine Kriterien für den Farbgebrauch bilden. Zweitens gilt das fachliche wie auch das psychologische Interesse am zeichnerischen Ausdruck seit jeher weniger der bildnerisch-ästhetischen Entwicklung von Kindern als vielmehr der kognitiven und emotionalen Entwicklung, weil sich - so die tradierte Auffassung - die innerpsychische Verfasstheit und die Intelligenz vermeintlich am zeichnerischen Entwicklungsstand zeigen.
Empirische Untersuchungen (Dietl 2002) belegen, dass der experimentelle Materialgebrauch die volle Aufmerksamkeit der Kinder im Herstellungsprozess bindet, dass unterschiedliches Material motivationsfördernd wirkt und dass verschiedene Modelle des Farbverwendens mit zahlreichen Übergangskategorien koexistieren. Während des Bildentstehungsprozesses weisen die Kinder ein ausgeprägtes Gespür für den Lichtwert der Farbe auf, im individuellen Farbgebrauch spiegelt sich Abwechslungsreichtum. Das Spiel mit Linie und Fläche verändert sich je nach Handlungs- bzw. Darstellungsabsicht. Es finden stetig Korrekturen und Übermalungen statt, abwechselnd geleitet von inneren Vorstellungen oder der Ausrichtung am äußeren Vorbild. Emotional bedeutsame Reizsituationen sind nötig, um Bildhandeln anzustoßen und in Gang zu halten. Somit sind herkömmliche Auffassungen eines entwicklungsbedingten Farbstufenmodells widerlegt. Farbwahrnehmung und Farbgebung sind als Ergebnisse mentaler Prozesse zu betrachten, die auf individuellen Erfahrungen gründen und individuell ausgeprägte Darstellungsformen hervorbringen.

  • Dietl, Marie-Luise: Kindermalerei. Zum Gebrauch der Farbe am Ende der Grundschulzeit. Dissertation, vorgelegt im Dezember 2002 am Lehrstuhl für Kunstpädagogik, Universität Augsburg

    Taschenbuch: 318 Seiten
    Verlag: Waxmann; Auflage: 1., Aufl. (März 2004)
    ISBN-10: 3830913478
    ISBN-13: 978-3830913474